Japanische politische TheologieTraduction allemande, publiée en mars 2003 dans Subtropen (supplément du journal Jungle World), numéro 23, d’une version renouvelée de art70, rub10, rub36Als Folge der Anschläge des 11. September wurde ein Garant der demokratischen japanischen Verfassung geopfert. Zum Zweck »der Bekämpfung von Terror« ist der neunte Artikel, der Krieg als Mittel zur Lösung internationaler Konflikte verbietet, um einen Zusatz erweitert. Der japanischen Armee wird ein unbegrenztes Einsatzgebiet zugedacht, das Land ist jetzt Teil der neuen Weltordnung.
Kaum hatten die apokalyptischen Bilder vom Einsturz der Twin Towers Japan erreicht, begann die Aufforderung, »Show the Flag!« durch die Medien zu geistern. Der Appell kam vom stellvertretenden US-Außenminister Richard Armitage. Die ihn in Japan eifrig wiederholten, kümmerte wenig, in welchem Zusammenhang die drei Wörter gefallen waren oder was Armitage damit meinte. Zumal kein Mensch den Wortlaut der Telefonkonferenz auf höchster diplomatischer Ebene kannte. Die drei Wörter genügten aber, eine Art nationalen Alp zu beschwören. Der geht zurück auf den Golfkrieg – jenem von 1991 – und vor allem auf die Missbilligung des ganz aufs Finanzielle beschränkten »japanischen Beitrags« zu diesem Krieg durch die gesamte »internationale Gemeinschaft«. Der Alp: Man verachtet uns, obwohl jeder von uns mehr als hundert Dollars gezahlt hat, oder gerade deshalb. »Lasst uns diesmal Flagge zeigen!« Endlich eine Chance zur Rehabilitation, wir müssen nur unsere »Selbstverteidigungskräfte« in den Indischen Ozean schicken; wenn nicht, dann sitzen wir noch tiefer in der Scheiße … Und so kam es, dass eine japanische Schiffseskorte, es war der 21.September 2001, die Fahne mit der aufgehenden Sonne hoch am Mast, gemeinsam mit dem US-Flugzeugträger Kitty Hawk von Yokosuka auslief. Die Fernsehbilder dieses Ereignisses schienen zu sagen: »Wir haben verstanden.« Die reale imaginäre Bedrohung brauchte nicht einmal eine Woche, und man sah, was sie anrichtete.
Recht auf Krieg.
Merkwürdigerweise gab es da die militärische Kooperation im Regierungsdiskurs noch nicht einmal. Offiziell hieß es, die Entsendung der Kriegsschiffe sei nur aus »Erkundungsgründen« erfolgt. Tatsächlich war das im Rahmen des damals geltenden japanischen Rechts und entsprechend seiner herrschenden Interpretation auch streng untersagt, außer zum Schutz Japans und ausschließlich Japans. Verfassungsrechtlich betrachtet war es reiner Zufall, dass unsere Kriegsschiffe den Hafen zur gleichen Zeit verließen wie die Kitty Hawk.
Viele machten sich deshalb einen etwas lächerlichen Opportunismus zu Eigen; Militärs, Diplomaten und politische Beamte kultivierten ihn, um »eine theologische Debatte mit den Rechtsgelehrten über die Verfassung zu vermeiden«. Traumatisiert vom nationalen »Makel« aus der Zeit des Golfkriegs hielt man es plötzlich für unvermeidlich, den absoluten Pazifismus der Konstitution teilweise oder ganz abzuschaffen, um Aufnahme in die internationale Gemeinschaft zu finden. Das geltende Recht erschien nun als drückendes Joch, und diese Geisteshaltung wurde von den liberalen Medien weithin geteilt. So hatte die Regierung freie Bahn für eine Flucht nach vorn. Auf die Tagesordnung setzte sie ein neues Gesetz, das Japan zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs das Recht einräumen sollte, zu einem anderen Zweck als zur »Selbstverteidigung« Krieg zu führen.
Die beängstigende Geschwindigkeit führte nun im Gegenzug zu einem massiven Schub von Legalismus und neu erwecktem Pazifismus. Tag für Tag tauchten neue Petitionen und neue Aufrufe auf, es gab öffentliche Debatten und Demonstrationen; und selbst innerhalb der – proamerikanischen – parlamentarischen Rechten gab es Stimmen, die das Gesetzesvorhaben in Zweifel zogen. In der Folgezeit überlagerten sich in der Debatte binäre Oppositionen: Krieg gegen Frieden, Politik oder Diplomatie gegen Gesetzesänderung, Militäreinsätze gegen diplomatisches Geschick, schließlich, was direkt aus der Art und Weise des Anschlags auf die Twin Towers abgeleitet war, der »Heilige Krieg«, also die Rechtfertigung des globalen Gegenschlags, gegen das »Verbrechen«, das entsprechend der Rechtsordnung zu verfolgen war. Nichts wirklich Überraschendes also, auch nicht Besonderes. Es schien wie überall auf der Welt zuzugehen, wenn auch mit der kleinen Besonderheit, dass die exzessive Wiederholung der Feststellung: »Das ist Krieg« in den Tiefen der historischen Gefühle wirkte: Der Satz schien dem Vater-Land der japanischen Verfassung, den USA, sagen zu wollen: »Wir sind keine Kinder mehr.«
Schließlich verabschiedete man im Oktober 2001 ein »Sondergesetz über Maßnahmen und Einsätze zum Zweck der Terrorismusbekämpfung«. Das Gesetz weist den »Selbstverteidigungskräften« ein unbegrenztes Einsatzgebiet zu und identifiziert ausdrücklich die nationale Verteidigung mit »Frieden und Sicherheit der internationalen Gemeinschaft«. Das Gebiet, dessen »Stabilität im Interesse unserer Sicherheit« liegt, wurde von Fernost auf die ganze Erde ausgedehnt. Das alles, ohne die Verfassung im Geringsten zu ändern, die im neunten Artikel jeden Krieg als Mittel zur Lösung internationaler Konflikte verbietet.
Lieblingsthemen der Nationalisten
Das »Show the flag!« in den Straßen, in den Medien und im Parlament machte jede politische Debatte über die Verfassung und ihre mögliche Änderung unmöglich. Dieses Problem anzugehen wäre für den eingeschlagenen Weg nach vorn in äußerst unsicheren Zeiten hinderlich; die neue Verfassung käme in dem Moment, da man sie brauchte, zu spät, lautete das Argument. Von daher wurde alles unternommen, den konstitutionellen Pazifismus und den Isolationismus einerseits, die militärischen und internationalen »Verpflichtungen« andererseits zu einer Art Koexistenz zu zwingen und so eine Logik zu schaffen, die den Widerspruch stillstellen sollte, während die Fahne am Flaggenmast der Begleitschiffe wehte. Diese Logik verkörperte das Sondergesetz. Seither ist von einer Verfassungsreform, immerhin eines der Lieblingsthemen der Nationalisten, selten die Rede.
Man leugnete auf der Ebene der Sicherheitspolitik jeglichen Unterschied zwischen dem Nationalstaat Japan und der internationalen Gemeinschaft, redete vom »Krieg gegen den Terror«, als ob es kein Krieg ist, und konnte so den neunten Artikel der Verfassung respektieren. Eine »theologische« Debatte, die man noch abgelehnt hatte, als es um die Entsendung der Kriegsschiffe ging, begleitete die Abstimmung des Sondergesetzes. Die politische Theologie schuf sich in dieser Situation selbst, und sie fand ihre Grundlage in der erwähnten, von binären Oppositionen beherrschten Debatte über Krieg und Frieden. Wie differenziert und wohlüberlegt die Beiträge in dieser Debatte auch waren, ihr zentrales Anliegen ist leicht zu erkennen: Wie kann man den Artikel neun der Verfassung gleichzeitig negieren und affirmieren? Das ist überhaupt das Problem der Theologie: Wie kann man die Existenz von etwas beweisen, das es nicht gibt?
Die politische Theologie, die man hier im Entstehen beobachten konnte, ist eigentlich keine japanische. Sie ist eine weltweite Erscheinung, weil der Ausnahmezustand weltweit ist. Der globale Notstand bringt sie hervor, und ihre Aufgabe scheint darin zu bestehen, eine Frage nach der Konstitution durchzustreichen. Die Rede von der »internationalen Gemeinschaft« funktioniert genau in diese Richtung und suspendiert das Thema, das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Zentrum des Souveränitätsbegriffs des japanischen Staats stand.
Bizarrer globaler Friede.
Der Ausnahmezustand bezieht seine Autorität aus der Verwandlung der nationalstaatlichen Souveränität im Namen eines bizarren globalen Friedens. Das bestätigt die These von Carl Schmitt oder auch ihre Reformulierung durch Negri und Hardt: Der Ausnahmezustand selbst ist souverän. Japanische politische Theologie scheint mir darüber hinaus in gewisser Weise auf die Zukunft des Empire zu verweisen. Während bis zum 11. September die allgegenwärtige Krise, sich aus dem Zusammenwirken kleinerer und nur ungenau zu bestimmender Krisen und Mikrokonflikten ergab, veränderte sich das mit der Apokalypse in New York grundlegend. Dieses Ereignis, das niemand voraussehen konnte, musste notwendigerweise die Bedingungen umwälzen, unter denen die Krise existiert. Wir können das gegenwärtig an den Vorbereitungen des Militärschlags gegen den Irak beobachten. Der Unterschied zwischen jeder einzelnen Krise und der Gefahr für die Weltordnung, die Diskrepanz zwischen konkreten Ereignissen in der Welt – lokalen Konflikten, sozialen Bewegungen, Terrorismen – und der abstrakten Maschine strebt gegen Null, wo die Krise sich ständig verändert.
Das Sondergesetz ist wie geschaffen für eine omnipräsente, sich ständig verändernde Krise. Für ein allgemeines Gesetz sind die Bestimmungen, die von einer bestimmten Situation ausgehen, zu konkret; man hatte daher nicht vergessen, ihm ein Verfallsdatum zu geben: Das Sondergesetz sollte nur für ein Jahr gelten. Das Parlament verlängerte es Ende 2002 um ein weiteres Jahr. Angesichts der Vorbereitungen für einen Krieg gegen den Irak, schickt die Regierung sich an, es durch ein Neues zu ersetzen. Eine Geschmeidigkeit wie diese ist für die Gesetze des Empire conditio sine qua non. Es geht darum, den Unterschied zwischen Krieg und Nichtkrieg auf der Ebene konkreten Handelns auszulöschen. Die japanische politische Theologie zielt, indem sie diese Logik inkorporiert, auf diesen Nullpunkt, diese Identität. Es geht nicht nur um einen Beitrag zu »Infinite Justice«, sondern vor allem um die Durchsetzung jener Ununterscheidbarkeit, die das Empire braucht wie die Luft zum Atmen. Der US-Neoimperialismus ist demgegenüber nur ein Moment, wenn nicht sogar nur eine Erscheinungsform. »Die internationale Gemeinschaft existiert nicht.« Als Condoleeza Rice, das aussprach, sagte sie nichts anderes, als dass das System der souveränen Nationalstaaten, einschließlich der USA, am Ende ist.
Aus dem Französischen von Thomas Atzert.
Yoshihiko Ichida lehrt Philosophie an der Universität Kobe.