Mit „Multitude” haben Michael Hardt und Antonio Negri den Nachfolgeband zu „Empire” herausgebracht
Soeben ist „Empire” von Hardt/Negri auf Russisch erschienen. Im Mutterland des Kommunismus wird dieses als neues “Das Kapital” gehandelte Werk mit einer Mischung aus Neugier und Verwunderung rezipiert. Der Verfasser zweier Rezensionen in der führenden russischen Wirtschaftszeitschrift „Vedomosti” und dem Lifestylemagazins „Afisha” berichtet belustigt über „echte Schätze”, die sich in dem Buch finden, wie „die verwunderlich genaue marxistische Formulierung des Grunds der Krise der UdSSR: die Weigerung des sowjetischen Proletariats zu arbeiten”, und die geradezu bewundernswerte Agitationsfähigkeit, heutzutage Aussagen zu treffen wie „die absolute Freude ist Kommunismus”. Was man heute mit so was anfangen soll, ist ihm offenbar nicht ganz klar.

Im „Westen” dagegen ließ sich „Empire” sehr vielseitig gebrauchen, wie nicht nur die Verkaufszahlen und der Medienrummel um das Werk seit 2000 zeigten: Als Identifikationsangebot, als Welterklärungsmodell, als Inspirationsgeber, als Arbeitskreislektüre, für radikalen Chic, als theoretische Initialzündung, als Bashing-Objekt etc.

In letzter Zeit sah es dann eher so aus, als würde die Autoren das Schicksal eines one-hit-wonders ereilen: Der Zusammenbruch der New Economy ließ die Plausibilität der These von der Zentralität der immateriellen Arbeit verblassen, und nach 9/11 und dem Einsetzen neoimperialistischer Tendenzen in den USA erging es der These vom netwerkartigen, weltumspannenden „Empire” ebenso.

Mit merkwürdigen öffentlichen Appellen an die Weltelite, doch zu erkennen, dass die Herstellung eines Empire dem unilateralen Kriegführen überlegen sei (u.a. in einer Publikation des Davoser World Economic Forum!), lieferten sich die Autoren zuletzt noch dem Verdacht aus, eigentlich Herrschaftsberatung statt Widerstand anzustreben.

Nun ist die „Fortsetzung” von „Empire” erschienen: „Multitude. War and democracy in the age of Empire”. Wie es sich für das Nachfolgeprojekts eines Hits gehört, wurden wesentliche formale Elemente des Vorgängers übernommen: Ein-Wort-Titel, bestehend aus einem schillernden, bereits eingeführten Begriff; dramaturgischer Aufbau inklusive Einschüben mit literarischen, historischen und diesmal sogar popkulturellen Analogien; Variation und Neu-Abmischung zentraler Riffs aus „Empire”. Wozu ist nun dieses Werk zu gebrauchen?

1. Zum Verständnis der herrschenden geopolitischen Lage:

Krieg wird heute in verschiedenen Formen zum Dauerzustand, und funktioniert als Herrschaftsmechanismus, so Hardt/Negri. Er dient der Verteidigung bzw. dem Austragen von Verteilungskämpfen innerhalb bestehender weltweiter Hierarchien, und verhindert Demokratie. Der Wunsch nach Demokratie fällt deshalb heute mit dem Wunsch nach Frieden zusammen.

Dass der Unilateralismus bzw. Neoimperialismus der USA nicht der Analyse in „Empire” folgt, gestehen die Autoren zwar zu, beharren aber darauf, dass diese Tendenzen nicht aufrechterhaltbar seien und letztlich aufgrund interner Widersprüche und dem Widerstand anderer mächtiger Exponenten der Weltordnung auf ein kooperatives, netzwerkförmiges Herrschaftsmodell einschwenken müssten. Eine „Magna Charta” stehe an, mit der Friede, Kooperation und breitere Partizipation wieder hergestellt werden. Dies sei auch die Chance für die Durchsetzung weitergehender Forderungen. Für ein laut Eigendefinition philosophisches Buch, das die Antwort auf die “Was tun?” Frage explizit den Bewegungen überlassen möchte, ein nicht ganz nachvollziehbarer Strategievorschlag mit allzu traditionell politikberatenden Zügen.

2. Zum Nachdenken über neue Demokratiemodelle:

Als Proponentin dieser Forderungen fungiert die „Multitude” – die vielfältige Menge der Menschen, die heute produzieren, ohne auf eine einheitliche Gestalt wie „Arbeiterklasse” reduzierbar zu sein. Was die Multitude erarbeitet und produziert, ist heute (im „Postfordismus”) immer stärker „immateriell” (Dienstleistungen im weiteren Sinn). „Immaterielle Komponenten” sickern in die unterschiedlichsten Arbeitsformen von der Industrie bis zur Landwirtschaft ein. Immaterielle Arbeit erfordert vorwiegend Kooperation und Kommunikation und ist verstärkt in Form von Netzwerken organisiert.

Die These von Hardt und Negri ist nun, dass die jeweils aktuellen Organisationsformen, die in der Wirtschaft dominieren, das Modell für andere Bereiche (Kriegführen, Politik machen, Demokratie) abgeben.

So wie die Produktion heute netzwerkartig organisiert wird, versucht sich auch avancierte Militärstrategie der Netzform zu bedienen, als historisches Vorbild fungiert die Guerilla. Auch in aktuellen Widerstandsformen wie den Globalisierungsprotesten dominiert dezentrale, netzwerkartige Kooperation.

Hardt und Negri schlagen nun vor, an einem neuen Demokratiemodell zu arbeiten, das sich ebenso aus der Organisation der Produktion ableitet: So wie die Multitude gemeinsam produziert, das Gemeinsame produziert, so kann sie politische Entscheidungen produzieren, in Analogie etwa zur Produktion freier Software. Sie produziert nicht nur Produkte und Dienstleistungen, sondern auch Kooperation, Kommunikation, Lebensformen, soziale Beziehungen. Die Entscheidungsfindung der Multitude wird in Analogie zur Funktionsweise des Gehirns und zur Koordination in einem Insektenschwarm gesetzt.

Während die moderne nationalstaatliche Demokratie vom Besitzindividualismus ausging, muss eine erneuerte Demokratiekonzeption, die der Globalisierung angepasst ist, davon ausgehen, dass nicht Privateigentum, sondern „das Gemeinsame” in seinen vielfältigen Formen die zentrale Quelle von Wert darstellt. Entsprechend richtet sich die Forderung nach Demokratie heute auch gegen die Enteignung des „Gemeinsamen” in Form von intellektuellem Eigentum und Privatisierung.

Statt wie in „Empire” die MigrantInnen sind „die Armen” nun für Hardt und Negri die gemeinsame Figur, die das Charakteristische an den weltweit in unterschiedlichen Bedingungen lebenden Herrschaftsunterworfenen bezeichnet. Im Gegensatz zu „Empire” kommen Rechtspopulismus und Fundamentalismus zwar diesmal vor, aber eine Analyse der emanzipatorischen und reaktionären Anteile der Multitude bleibt wieder aus.

3. Zum Nachprüfen von Einwänden gegen „Empire”:

Wesentliche Stellen des Buches sind der Auseinandersetzung mit Kritik an zentralen Konzepten Hardt und Negris gewidmet: Immaterielle Arbeit, Multitude, Empire. Das ist mal überzeugend, mal weniger, manchmal ziemlich bescheiden und defensiv, aber jedenfalls nützlich.

4. Zur Kritik an Vorschlägen zur Reform der Globalisierung:

In ihrem Überblick über diverse Ansätze des öffentlichen „Klagens” gegen Missstände wie mangelnde Repräsentativität internationaler Organisationen, Mangel an Menschenrechten, Armut und Verschuldung, ökologische Probleme und Aneignung von Biomaterial erkennen Hardt/Negri ein demokratisches Potenzial. Bloße Regulierung ist aber zu wenig, weil sie an den Ursachen der meisten Probleme nichts ändert.

Die Stärke von „Multitude” ist wie in „Empire” das Synthetisieren verschiedenster Phänomenen und Theorien in ein Gesamtbild, das zwar nicht immer rund und konsistent ist, aber Interpretation und Überblick bietet, und das ganze in einer emanzipatorischen Perspektive, wo sonst technokratische Einzelperspektiven überwiegen. Gegenüber „Empire” ist „Multitude” offensichtlich an ein breiteres Publikum gerichtet: Ein größerer Verlag, das Bemühen um eine einfachere Sprache und die Verwendung vieler aktueller Beispiele und Belege statt bloß schillernder Begriffe deuten darauf hin. Die häufige Verwendung von Zitaten aus aktueller marxistischer und feministischer Literatur sind wohl als Geste an die „Community” gedacht, wiewohl weniger häufig als in „Empire” von „Kommunismus” die Rede ist. Dafür viel von historischen Vorläufer-Figuren – und schließlich von Liebe als politischem Konzept.

Michael Hardt/Antonio Negri: Multitude. War and Democracy in the age of Empire (Penguin Press 2004)